30. August 2008
Auch wenn wir noch nicht wissen, wer im November zum neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt werden wird: Der demokratische Parteitag in Denver war ein historisches Ereignis, das die politische Landschaft der USA unwiderruflich veränderte.
- 45 Jahre nach der legendären „I have a dream“-Rede von Martin Luther King wurde zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte ein farbiger Präsidentschaftskandidat nominiert, der von sich selbst sagt, dass er ein „unwahrscheinlicher“ Präsident wäre – einer „mit dem falschen Stammbaum“
- Mit Hillary Clinton kam zum ersten Mal eine Frau in Reichweite der Präsidentschaft
- Noch nie hat sich eine so große Zahl von Bürgern an den Primaries beteiligt
- Zum ersten Mal nach John F. Kennedy hat ein Präsidentschaftskandidat seine „Acceptance Speech“ in einem Stadion gehalten: keine Parteiveranstaltung, sondern ein öffentliches Ereignis. Niemand hatte seit JFK die Fähigkeit, Menschen in Bewegung zu setzen, wie der schmale, jungenhaft und kraftvoll zugleich wirkende Senator aus Illiniois
- Noch nie wurde für eine Wahlkampagne so viel gespendet: das Budget für diese Präsidentschaftswahl wird zum ersten Mal die Milliardengrenze überschreiten
- Und noch nie gab es ein solches internationales Interesse an einer amerikanischen Wahl, auch wenn die Wahl des Präsidenten der mächtigsten Nation auf dem Globus immer schon mehr als eine nationale Angelegenheit war
Wer unter den 80.000 Menschen im Football-Stadion der Denver Broncos war, konnte sich der Magie dieser Stunden kaum entziehen. Es war jenseits der perfekten Inszenierung ein emotionales Erlebnis. Die Begeisterung der Menge, ihr Enthusiasmus, war physisch spürbar.
Zugleich war sie zivil, weit entfernt von Fanatismus und Unterwerfung unter einen Führer. Barack Obama mobilisiert mehr als Unterstützung. Er hat eine Bewegung für den Wandel wachgerufen, in der sich Hunderttausende engagieren und viele Millionen angesprochen fühlen. Al Gore, der eine kraftvolle und umjubelte Rede hielt, erinnerte daran, woran man historische Wendepunkte erkennt: wenn sich eine außergewöhnliche Zahl junger Menschen in Bewegung setzt. Das ist hier offenkundig der Fall.
Mögen Obama und McCain in den Umfragen auch nahezu Kopf an Kopf liegen, bei den jungen Wählern führt der demokratische Kandidat mit großem Vorsprung. Die Strategen seiner Kampagne haben das Ziel ausgerufen, bis zum November eine Million aktiver Unterstützer zu gewinnen. „Die Veränderung kommt von unten“, rief Obama aus, „bei dieser Wahl geht es nicht um mich, sondern um euch!“
Obamas Programm
Es greift zu kurz, diese Mobilisierung mit den visionären Qualitäten Obamas oder mit seinem politischen Programm zu erklären. In den konkreten politischen Absichtserklärungen, die er in Denver darlegte, steckte wenig Visionäres. Es war eher der traditionelle links-demokratische Katalog: Steuersenkungen für 90 Prozent der arbeitenden Bevölkerung, Streichung von Vergünstigungen für die großen Konzerne, bezahlbare Gesundheitsversorgung für alle, mehr Geld für bessere Bildung, familienfreundlichere Arbeitszeiten, Investitionen in die Infrastruktur. Zum Abzug aus dem Irak äußerte er sich zurückhaltender als seine Vorredner, obwohl er zu der Minderheit demokratischer Senatoren gehörte, die diesen Krieg von Anfang an ablehnten (Hillary Clinton gehörte nicht dazu). Seine Forderung nach einem präzisen Zeitplan für den Rückzug der US-Truppen wiederholte er nicht. Stattdessen kündigte er an, mehr Truppen und mehr finanzielle Ressourcen in Afghanistan einzusetzen, um dort den Erfolg zu erzwingen („to make the bite“). Schwer vorstellbar, dass die Verstärkung des amerikanischen Engagements nicht mit entsprechenden Forderungen an die Adresse der Europäer verbunden sein wird.
Neu war die Absicht, die Vereinigten Staaten innerhalb von zehn Jahren unabhängig von Ölimporten aus dem Nahen Osten zu machen. Und neu ist auch die von allen Hauptrednern proklamierte Energiewende: Wind, Sonne, Bio-Kraftstoffe sind die neue Hoffnung auf einen ökonomischen Aufschwung. Obama setzte noch „Carbon Sequestration“ hinzu, die Abscheidung von CO-2 in Kohlekraftwerken.
Darüber hinaus kündigte er an, die amerikanische Autoindustrie dabei zu unterstützen, künftig die umwelteffizientesten Autos der Welt zu produzieren. „Going green“ war eines der zentralen Themen dieses Parteitags. Dabei ging es weniger um den Klimawandel – allein Al Gore ging darauf ausführlicher ein –, sondern um die Kombination von Energiesicherheit und neuen Jobs für Amerika. Internationale Klimapolitik und die Zukunft des Kyoto-Protokolls spielten keine Rolle. Die Reden des Parteitags waren fast komplett von einer US-Binnenperspektive geprägt. Obama ging zwar nicht so weit wie andere, die versprachen, eine demokratische Administration werde verloren gegangene Industriearbeitsplätze wieder in die USA zurückholen. Aber „America First“ war auch in seinen knappen wirtschaftspolitischen Aussagen unüberhörbar.
Obwohl sein Regierungsprogramm auf „mehr Staat“ hinausläuft, vertritt er nicht die Idee eines Versorgungsstaats. Es geht immer auch um die Eigeninitiative der Bürger, um ihre Verantwortung für sich selbst und für das Gemeinwesen. Er geißelte die Republikaner, die alles dem Markt überantworten wollen und die in Not geratenen Menschen im Stich lassen, aber er bekannte sich zu einer Marktwirtschaft, „die harte Arbeit, innovative Ideen und Unternehmertum belohnt“.
Obamas politische Absichtserklärungen fügten sich nicht zu einem Gesellschaftsentwurf. Er hat noch keinen Begriff für den Wandel, den er beschwört. Aber er versteht es, jenseits konkreter Maßnahmen die Ideale Amerikas wach zu rufen und an die Grundwerte zu appellieren, die den American Dream ausmachen: Einheit in der Vielfalt, harte Arbeit, Selbstverantwortung, Respekt, Gemeinsinn, Verantwortung für den anderen, Fairness und Chancengleichheit.
Er anerkannte die unterschiedlichen Auffassungen in der amerikanischen Öffentlichkeit zur Abtreibung wie zur Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern und warb zugleich für Toleranz gegenüber Minderheiten. Dagegen vermied er die „Rassenfrage“ und streifte nur indirekt die Emanzipation der schwarzen Amerikaner, indem er an Martin Luther Kings historische Rede erinnerte. Mit seiner Person ist diese Frage ohnehin omnipräsent, und es gibt sehr unterschiedliche Einschätzungen darüber, welche Rolle sie bei der Wahl letztlich spielen wird. Sicher ist nur, dass Obama keinesfalls als Kandidat erscheinen will, der eine „Black American Agenda“ vertritt. Die Stimmen der allermeisten Afroamerikaner sind ihm sicher. Entscheidend wird sein, ob er die Vorbehalte der weißen Arbeiterschaft zerstreuen und sich als Kandidat der „hard working, decent people“ gleich welcher Hautfarbe präsentieren kann. Darauf war sein Auftritt in Denver angelegt, und darauf zielt seine gesamte Kampagne.
Change!
Das Zauberwort der Obama-Kampagne heißt „change“, also Wandel und Neubeginn. Obama ist der Katalysator des Wandels. Dass er in dieser Rolle so durchschlagenden Erfolg hat, ist das Ergebnis von acht Jahren einer unsäglichen Politik, die Amerika an den Rand des Abgrunds geführt hat. Es brauchte nur einer charismatischen Führergestalt, um die ganze aufgestaute Wut und Verzweiflung weiter Teile Amerikas im Ruf nach Veränderung zu bündeln. Wenn man den Beifallpegel des Parteitags zum Maßstab nimmt, kann man die zentralen Hoffnungen ermessen, die mit Barack Obama verbunden werden:
- Das Versprechen, dass der neue Präsident die amerikanische Verfassung achten und die Bürgerrechte respektieren werde
- Die Beendigung eines irregeleiteten Krieges, der die amerikanischen Steuerzahler zehn Milliarden Dollar im Monat kostet, und der Rückzug der amerikanischen Truppen aus dem Irak
- Eine Politik für die arbeitende Bevölkerung, die der Mittelklasse wieder Luft zum Atmen gibt und das Versprechen auf Chancengleichheit einlöst
- Der Wunsch nach Integrität und Anstand in der Politik
- Die Rückgewinnung des internationalen Ansehens der USA und ihrer weltpolitischen Führungsrolle.
Die soziale Frage ist in Amerika nach acht Jahren Einkommensverlust für einen Großteil der arbeitenden Bevölkerung, steigenden Kosten für Gesundheit, Bildung und Energie und der Krise auf dem Immobilienmarkt wieder ins Zentrum gerückt. Bushs „compassionate conservatism“ hat sich als leeres Versprechen erwiesen. Das Leben der Mehrheit der Amerikaner ist härter geworden. Das erklärt einen Gutteil des Rufs nach Veränderung. Aber viele sind auch alarmiert wegen der schleichenden Aushöhlung der Demokratie und der Missachtung der Grundrechte durch die Administration, und sie leiden unter dem Reputationsverlust Amerikas in der Welt. Für sie sind die USA immer noch die universelle Nation, der weltweite Garant für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, und sie wollen diese Rolle wiederhergestellt sehen.
Patriotismus und Führungsqualität
Die Parteitagsregie war konsequent darauf ausgerichtet, die Zweifel an der Eignung Obamas als Präsident der Weltmacht USA zu zerstreuen. Kein Kandidat, an dessen Patriotismus gezweifelt wird, kann je Präsident der Vereinigten Staaten werden. Also wurde alles aufgefahren, was den Patriotismus von Mr. und Mrs. Obama unterstreichen soll: von seinem Onkel, der im zweiten Weltkrieg mit seiner Einheit Buchenwald befreite, bis zu einer ganzen Parade von Veteranen der amerikanischen Armee, die ihm bescheinigten, der ideale „commander in chief“ zu sein.
Das war keine künstliche Inszenierung: Das „andere Amerika“, das sich im Stadion versammelte, war mit amerikanischen Fahnen bewaffnet, die mit Begeisterung geschwenkt wurden. Für Obamas Anhänger geht es darum, den Stolz auf Amerika wieder herzustellen, der durch die Bush-Cheney-Kamarilla beschmutzt wurde. Es war beeindruckend, wie ein Ex-General der US-Army die Qualitäten definierte, die einen Oberbefehlshaber auszeichnen: die Fähigkeit, die komplexe Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts zu verstehen und verantwortungsvolle Entscheidungen über den Einsatz von Gewalt zu treffen – im vollen Bewusstsein des Werts eines jeden Menschenlebens. Al Gore umschrieb Führungsqualität (leadership) als Fähigkeit, Menschen zu inspirieren und zu ermutigen. In diesem Sinn ist Obama ein Talent, das nur alle Jubeljahre vorkommt. Ihn als Messias zu überhöhen, der Amerika vor allen Unbilden retten wird, tut ihm allerdings keinen Gefallen – und vergrößert auch nicht seine Chancen, am 4. November gewählt zu werden.
Auch wenn John McCain nicht der Replikant von George W. Bush ist, als den ihn die Obama-Kampagne hinstellt, kann man aus transatlantischer Perspektive nur hoffen, dass die amerikanischen Wähler Obama vor die Herausforderung stellen, den versprochenen Wandel in konkrete Politik zu übersetzen. Obama ist eine Irritation für alle antiamerikanischen Klischees, er hätte die Chance, auch die internationale Rolle der USA neu zu definieren. Rückkehr zu einer partnerschaftlichen Politik, ohne den Führungswillen der USA zu verleugnen, war eine zentrale außenpolitische Botschaft dieses Parteitags. Für Europa, das nach wie vor als natürlicher Verbündeter gesehen wird, ist das eine gute, aber keine bequeme Nachricht.
Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung
Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.- Sämtliche Beiträge zum „Diary of Change“ - Ein Tagebuch zum Wechsel in Washington
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